Die faszinierende Welt des Web 2.0







Wie sieht sie aus – wo sind Chancen und Risiken für die Sicherheitsbehörden?
Jürgen Paulus
Erster Polizeihauptkommissar und Master of Arts (M.A.) Erwachsenenbildung Leiter Referat Anwenderschulung Fachhochschule für öff. Verwaltung - FB Polizei-/ LPS Rheinland-Pfalz
Problembeschreibung
Im Jahre 1977 verkündete Ken Olsen, Direktor der damals zweitgrößten Computerfirma der Welt, Digital Equipment Corp., vollmundig: „Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand einen Computer in seinem Haus wollen würde.“
Aus damaliger Sicht, aufgrund der eingeschränkten Nutzungsmöglichkeiten und der Größe solcher Geräte vielleicht verständlich, jedoch aus heutiger Sicht ein historischer Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte. Aktuell könnte man ebenfalls einem folgenreichen Irrtum unterliegen, wenn man behauptet, dass die Anwendungen im Internet, insbesondere des Web 2.0 eine vorübergehende Erscheinung sind und sich bald wieder erledigt haben, weil sie von anderen Entwicklungen abgelöst werden. Für ein Unternehmen kann ein solcher Irrtum sehr schnell das wirtschaftliche Ende bedeuten. Für eine Organisation Polizei, die als Exekutive des Staates politische sowie gesellschaftliche Entwicklungen beobachten, begleiten und mit entsprechenden Maßnahmen flankieren sollte, kann die Missachtung solcher Innovationen langfristig fatale Auswirkungen in vielerlei Hinsicht haben.
Es vergeht derzeit kaum ein Tag, an dem Onlineausgaben von Computerzeitschriften nicht über Neuerungen sozialer Netzwerke wie Facebook, Wer-kennt-Wen oder Google+ berichten. Topaktuelle Nachrichten werden über Twitter in Sekunden an ein weltweites Publikum in Umlauf gebracht. Prominente Blogger berichten und diskutieren auf ihren Internetseiten mit Nutzern über die neuesten Apps für Tablets oder Smartphones der aktuellen Betriebssysteme wie Google Android, Apple iOS oder Windows Phone. Datenschutzrelevante Aspekte der sozialen Netzwerke, allen voran Facebook, werden im deutschsprachigen Web und nicht nur dort kritisch diskutiert und als äußerst bedenklich eingestuft. So hat der Schweizer Student Max Schrems unlängst im Rahmen eines Studienprojekts seinen Facebook-Account analysiert und sich seine Daten von Facebook per Antrag aushändigen lassen. Die CD mit seinen Daten aus mehreren Jahren Mitgliedschaft in Facebook umfasst sage und schreibe 1.200 DIN-A4-Seiten. Hierbei wurde alles gespeichert, sämtliche Informationen über Freunde, Inhalte von Chats, selbst sensible Informationen der Kommunikation waren gespeichert. Sogar Daten, die er gelöscht hatte, wurden von Facebook zwar als gelöscht vermerkt, waren aber noch nicht physisch vernichtet. Damit waren sie zwar nicht mehr für den Anwender sichtbar, aber doch noch in den Datenbanken von Facebook vorhanden1. Bereits die Analyse der Geschichte von Max Schrems, der mit anderen Studierenden zusammen insgesamt 22 Anzeigen gegen Facebook erstattet hat, könnte diesen Beitrag ohne Probleme füllen.
Der Autor möchte die Thematik jedoch grundsätzlicher betrachten und zunächst ein allgemeines Verständnis für das Web 2.0 herstellen. Der Begriff Web 2.0 beziehungsweise Social Web ist in aller Munde und wird in verschiedensten Zusammenhängen immer wieder gerne benutzt. Doch wer weiß denn wirklich genau, was darunter zu verstehen ist und was ist anders oder neu gegenüber einem Web 1.0? Welche Auswirkungen hat das Web 2.0 mittel- und langfristig auf die Polizei? Welche polizeilichen Kernprozesse sind tangiert? Geht es um neue Wege in der Präventionsarbeit, der Strafverfolgung, der Öffentlichkeitsarbeit oder der Nachwuchswerbung? Sind Grundsätze der Einsatzlehre, Erkenntnisse der Kriminologie oder die kriminalistische Arbeit betroffen? Stellt die zunehmende Verlagerung realer Handlungen in virtuelle Onlinewelten die Polizei vor grundsätzliche Fragen einer sich anzupassenden Aufbau- und Ablauforganisation? Sollte die Institution Polizei in einer neu formierenden Netzgesellschaft nicht auch dort adäquat präsentiert werden beziehungsweise präsent sein, um das „Produkt“ Sicherheit zielgruppenorientiert „verkaufen“ zu können? Um für die Mannigfaltigkeit dieser Fragestellungen eine Antwort zu finden und sachgerechte Einschätzungen vornehmen zu können, ist fundiertes Grundlagenwissen entscheidend, also umfangreiche Kenntnisse über die Art und Weise wie das Web 2.0 funktioniert und welche Anwendungen erfolgreich und für die Polizei von Relevanz sein könnten. Doch hier stoßen viele von uns bereits an ihre Grenzen. Nicht ohne Grund wird bei den Nutzern digitaler Medien und dem Social Web zwischen den sogenannten Digital Natives und den Digital Immigrants2 unterschieden und damit begründet, dass dies unter anderem mit der Unterschiedlichkeit der lebensweltlichen Erfahrungen, Denkmustern und somit auch Hirnstrukturen zu tun hat3. Die heutigen neuen Medien werden von Erwachsenen, die in ihrer Kindes- und Jugendzeit ohne digitale Medien sozialisiert wurden, zunächst als eine „exogene Zone (fremde Welt)“ oder auch feindliche Umgebung wahrgenommen und daher als bedrohlich empfunden4. Somit ist aber auch eher von einer Distanzierung oder Hemmung zur Nutzung dieser Technologien auszugehen, was aber gerade in der Generation der Digital Immigrants erforderlich wäre. Diese ist aber auch die Managementebene, die beurteilen soll, welche Bedeutung das Social Web heute entfaltet und welche mittel- und langfristigen Strategien für eine Berücksichtigung dieser Entwicklungen erfolgreich sein könnten.
Zielsetzung
Der Beitrag verfolgt somit zwei wesentliche Zielrichtungen. Zunächst soll ein wenig Licht in das Dunkel dieser technischen Begriffe des Internets, wie Wikis5, Blogs6, Microblogs7, Social Networks8 und Social Sharing9 gebracht werden. Im heutigen, ersten Teil dieses Beitrags werden wesentliche Grundlagen zum Verständnis der Funktionsweise der Kommunikation im Web 2.0 gelegt und an den Beispielen Wiki und Blog erläutert. Doch nicht nur die technischen Begrifflichkeiten werden erklärt, vielmehr kommen mit den angeführten Technologien und Innovationen neue Formen der Kommunikation, Interaktion und Beziehungspflege auf, die das „Soziale“ am Web 2.0 erst ausmachen und ursächlich für den immensen Erfolg dieser Anwendungen sind. Auch dies wird begleitend zu den technischen Gegebenheiten erörtert.
Diese beiden Aspekte führen zu einer Erkenntnis, die deutlich machen wird, in welchem Ausmaß inzwischen das Web 2.0, insbesondere das Social Web, in unserer (Netz-)Gesellschaft bereits mit dem realen Leben verwoben ist und damit auch für die Polizei entsprechende Wirkungen entfaltet. Denn es handelt sich hierbei nicht um einen Hype oder vorübergehenden Modetrend, der nach einiger Zeit wieder verschwindet, wie die Hippies der 60er- und die Punks der 80er-Jahre. Es geht ganz klar um eine grundlegende und nachhaltige Änderung in der Art und Weise, wie Menschen zukünftig miteinander kommunizieren, interagieren, kooperieren und ihre Beziehungen pflegen werden. Es zeichnet sich auch immer deutlicher ab, dass wir neben der physischen Identität zunehmend damit konfrontiert sein werden, eine virtuelle Onlineidentität zu erstellen und zu pflegen, um in einer modernen Netzgesellschaft bestehen zu können. Wir stehen inzwischen an der Schwelle zu einer Netzgesellschaft in der Lernen, Arbeiten, ja das alltägliche Leben immer mehr in Netzwerken des Internets stattfinden wird. Das Web 2.0 mit seinen enormen Interaktionsformen, dem sogennanten Social Web, hat „…die breite Masse erreicht“10 und hält Einzug in den Lebensalltag der Menschen. Hierzu nachfolgend einige Zahlen, die dies verdeutlichen werden.
Technologische Schlüsseltrends der nächsten Jahre
So berichtete der Heise Newsticker am 21. Juli 2010, dass Facebook weltweit 500 Millionen Mitglieder zählt11. Anfang Oktober letzten Jahres wurde die Marke von einer Milliarde Nutzern überschritten12, alleine mehr als 25 Mio. Nutzer im Januar 2013 nur in Deutschland13. Der Mikroblogging- Dienst Twitter erreichte Ende 2012 bereits über 200 Millionen aktive Nutzer. Die Gesamtzahl der registrierten Nutzer gibt Twitter nicht bekannt, wird aber auf über 400 Millionen Nutzer geschätzt. Jeden Tag kommen derzeit geschätzte 460.000 neue Accounts14 hinzu15. Wikipedia verfügt aktuell über mehr als 14 Millionen Artikel. Auf der Videoplattform YouTube werden täglich mehr als zwei Billionen Videos aufgerufen und beim Fotodienst Flickr befinden sich mehr als vier Billionen Bilder16. Diese beeindruckenden Zahlen lassen sich mit beliebiger Social Software fortführen und verdeutlichen ihre Beliebtheit innerhalb der Netzgemeinschaft. Die Abbildung 1 zeigt sehr eindrucksvoll die Vielfalt der Anwendungen des Social Web in den unterschiedlichsten Kategorien. Doch nicht nur das Social Web ist im ständigen Wandel begriffen. Die Technologien im Bereich der neuen Medien wie PCs, Notebooks, Tablets und Smartphones entwickeln sich in atemberaubendem Tempo weiter. Gerade mobile Geräte erfreuen sich einer enormen Beliebtheit. Dies ist auch nicht verwunderlich, vereinen sie doch oft die Funktionalitäten kompletter PC-Systeme in sich, passen in jede Tasche und können überall und zu jeder Zeit genutzt werden. Der Absatz ist ungebremst, der Verkauf von hochwertigen Multimedia-Handys (Smartphones) ist 2012 wiederum gestiegen und überholte erstmals den Absatz herkömmlicher Mobiltelefone. Insgesamt wurden in 2012 28,9 Millionen Mobiltelefone abgesetzt, wobei Smartphones einen Anteil von 55 Prozent ausmachten17. Die ständige mobile Verfügbarkeit des Internet durch leistungsfähige Netze (anywhere and anytime online) bei relativ geringen Kosten ermöglichen es, zu jeder Zeit und überall online zu sein. So haben sich die Mobilfunkanschlüsse weltweit in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt und werden 2013 auf über 7,1 Milliarden Anschlüsse steigen18. Der nächste Schritt, der ultraschnelle Mobilfunkstandard LTE ist bereits in der Umsetzung und soll bis Ende 2012 alle größeren Städte in der Bundesrepublik abgedeckt haben. Aber auch das mobile Internet boomt: Einer Studie von Cisco, einem weltweit führenden Anbieter von Networking-Lösungen zufolge, wird der mobile Datentransfer bis 2015 um das 26-fache und die Geschwindigkeit der mobilen Netzanbindung um das Zehnfache steigen19. Der Horizon Report, ein Trend- Monitor für technologische Entwicklungen, nennt an erster Stelle als wichtigsten Trend in 2012 mobile Apps und das Mobile- und Tablet-Computing. Einer der bedeutendsten Treiber dieser Entwicklungen und damit ein Schlüsseltrend ist, dass „…die Menschen erwarten, wo und wann immer sie wollen, arbeiten, lernen und studieren zu können. (…) Eine schnellere Lösung wird oft als die bessere wahrgenommen und die Menschen wollen einfachen und zeitnahen Zugang nicht nur zu Informationen im Netz, sondern auch zu ihren sozialen Netzwerken, die ihnen helfen können, die Informationen einzuordnen und so ihren Wert zu maximieren“ 20 22. Ein weiterer Motor mobilen beziehungsweise ubiquitären Einsatzes neuer Medien ist der Ansatz des Cloud-Computing21, welches direkt nach dem Mobile-Computing als zweitwichtigster Trend identifiziert wurde. „Entscheidend ist nicht, wo unsere Arbeit gespeichert ist, sondern dass wir darauf zugreifen können, unabhängig davon, wo wir sind oder welches Gerät wir dafür nutzen“20.